465woerter

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Schon beim ersten Nippen werden meine Zunge und mein Gaumen pelzig-trocken, bitteres Gebräu rinnt mir die Zunge hinunter. Was ich da schmecke muss ich sehen, um es zu verstehen. Das Abploppen des Mehrweg-Plastikdeckels gibt den Blick in meinen Mehrweg-Trinkbecher frei und ich schaue in einen undurchsichtigen moos-moor-grünen See. Weder Geschmack noch Aussehen lassen auf den Matcha Latte schließen, den ich bestellt hatte. Meine Geschmacksknospen signalisieren mir, den Tee unverzüglich wegzukippen, meine Vernunft hält dagegen. Irgendwo auf der Welt wurden Teepflanzen gewässert, geerntet, getrocknet, gemahlen, zum Verkauf abgefüllt und transportiert. All das womöglich unter Bedingungen, die den menschlichen und natürlichen Ressourcen nur wenig Respekt zollten. Ich blicke um mich und kann nicht anders, als mich der Bitterkeit und dem schlammigen Muff hinzugeben, als würden sie mich die Trockenheit der Bäume schmecken lassen, die um mich herum knarren und ächzen. Ich höre, wie der Wind die noch an den Bäumen verbliebenen Blätter in einer fremden Tonlage knistern lässt, die weder Sommer noch Herbst ist. Ich fühle staubtrockenes Blattwerk, Hitzesommerlaub, unter meinen Füßen. An meine Kleidung heften sich klettenartig zu Blattflocken zerbröselte Blätter, die aussehen wie Fischfutter. Trockene Flocken für gedörrte Fischkadaver in staubigen Flussläufen. Leben wird zum Lotteriespiel. Unvermittelt brechen und stürzen die Äste gesunder Bäume und sie erleiden Fehlgeburten ihrer viel zu frühen Früchte. Sie fallen gradlinig, schwer und mahnend auf staubtrockene Böden. Der Staub staubt hinauf in meine Atemwege. Staub überzieht Schleimhäute, Lungen, Gesicht, Haare, Körper, Hände, Füße, Schuhe, Kleidung. Mich überkommt eine Ehrfurcht vor dem Staub, der die Macht hat, mich zu ersticken, mich aufzufüllen bis ich mich in eine Staubuhr verwandle. Invasiv, penetrant, stetig, richtet er sich ein, der Staub, in den Ecken und Nischen, Ritzen und Kerben, Fasern und Rissen. Wenn es in dieser Hitze regnet, verdampfen die Tropfen noch in der Luft. Auch sie verlieren gegen den Staub und das Stickicht. Verdichten sich die Tropfen zu Strömen, verlieren sie gegen den Staubpanzer, an dem sie keinen Halt finden. Tapfer nippe ich mein bitteres Gebräu. Das Matcha Pulver hat sich zentimeterdick schlammig am Boden des Bechers abgesetzt. In Wasser gebundener Teestaub. In einer von vermeintlicher Wohltat inspirierten Kurzschlussreaktion versuche ich den Matsch ins Gebüsch zu kippen und fabriziere dabei eine unbeholfene Sauerei. Ein Teil des Schlammwassers bleibt schlierig im Becher zurück, der Rest hängt zähflüssig in den Blättern des Gebüschs. So ist das, denke ich mit Otto Rehagel: „Mal verliert man und mal gewinnen die anderen.“

In meiner Kindheit verbrachte ich viel Zeit hier im Park. Ich sitze auf einer Bank und Erinnerungen besuchen mich. Geburtstagsfeiern auf Picknickdecken unter der großen alten Eiche. Unzählige Ostereiersuchen. Enten, Schwäne und Eichhörnchen füttern. Eishockeyspielen auf dem zugefrorenen See. Kiesel in die Taschen stopfen. Fahrradfahren lernen. Mit Heuschnupfennase durch die kindskopfhohen Gräser streifen.

Im letzten Dritteljahrhundert hatte sich für mich in diesem Park nicht viel verändert.