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Sommer am See. Die Sonne energetisiert die Moleküle der Pflanzen, des Ufersandes, der Menschen. Dichter Sommerduft nach Gras, Baumrinde, Sandstaub, heißer Haut, süßem Schweiß und Sonnencréme steigt mir in die Nase. Dumpfes Ploppen eines Wasserballs, Enten quaken im Schilf, das Rauschen der Autobahn und das Knattern eines Motorflugzeuges. Mich beschleicht eine befremdlich wohlvertraute Vorfreude darauf, T-Shirt und Shorts auszuziehen. Die frische Luft überall am Körper zu spüren, mich trotz Badebekleidung ungewohnt nackt, aber fabelhaft zu fühlen. Der warme Wind umspielt meinen Körper, streichelt mich, heißt mich Willkommen im Sommer. Ich begrüße ihn mit einem Lächeln, das sich in mir ausbreitet wie wilde Schmetterlinge, bis alles pocht vor Glückseligkeit und Abenteuerlust. Aufgeheizte Körper um mich herum. Wärmespeicher, denen die Sommerhitze entweicht, noch bevor der Winter beginnt. Das Begehren nach Abkühlung ist entfacht und lodert auf. Dem Duft von morschem Holz folgend, entlang der dunklen Spur aus Erde, Kieseln und Gehölz pirsche ich zum Eisstand. Wie schafft es diese Institution, alles zu überdauern, sogar den Winter? Zwei Kugeln Zitroneneis. Im Becher. Bitte. Süße Sünde. Knackige Knistersäure. Seifig-süß-bitterer Zitronensaft stimuliert meine Geschmacksknospen und lässt mir das Wasser im Mund zusammenlaufen. Es ist vollends um mich geschehen als aus dem Radio am Eisstand „The Boys of Summer“ in meine Ohren dringt und mir den Kopf abschaltet. Ich verliere mich im Anblick der Jungs, die zu jedem See gehören, wie sein Wasser und die Tretboote. Sportliche Typen, schon von der ersten Frühlingssonne geküsst und man möchte glauben, es sei die Bräune eines ewigen Sommers. Sorglose Typen, die nach Sommer riechen. Sie sind schon Sommer, bevor er überhaupt da ist. Sanfte Typen, glatt, ohne Kanten, wenig Tiefgang, unbeschwert. Männer, die auch mit Dreißig noch aussehen wie Jungs. Eine verlockende Illusion vom kleinstmöglichen Widerstand und das Phantasma der Schwerelosigkeit geht in ihnen auf – nur hier und jetzt, kein morgen, kein Winter. Das Zitroneneis schmilzt samtig quietschsauer in meinem Mund und der Sommer beginnt – jetzt! Auf die weiße, unschuldige Zitroneneis-Leinwand schreibe ich den Sommer, bis die Jungs gehen werden. Ich schreibe meinen endlosen Sommer mit lauen Nächten an Wasserufern, schlaflos, erwartungsvoll, hungrig. Mein Sommer ist wie Zitroneneis – irgendetwas zwischen kurzem Vergnügen und leidenschaftlichem Genuss. Ein Eiszitronentraum mit flüchtiger Konsistenz, Luftzitronenschlösser. Offenbarung eines zitronenhaften Zaubers, einer samtig-schmelz-zart-sauren Versuchung: Die Synthese von kurzem Vergnügen und leidenschaftlichem Genuss. Kurzes Genießen, leidenschaftliches Genießen, Genussvergnügen. Kurzvergnügen, genüsslich und leidenschaftlich, ich genussvergnüge mich. Vergnügen aus Leidenschaft, Kurzgenuss. Miniatürliche, explosionshafte, knisternde Erfrischung in eisheißen Nächten. Spritzig-saures Abenteuer, das große Begehren in lauter kleine Begehrungsappetithäppchen zerlegend, lutschend, umhüllend, dahinschmelzen lassend. Aggregatzustände, Substanzen, physikalische Gesetze zur Metamorphose nutzend. Eis wird heiß, es schmilzt, ich schmelze, wir verschmelzen mit diesem Sommer, diesem unendlich flüchtigen, zeitlos strahlenden, sinnlich verführenden. Eis klebt auf unserer Haut, kristallisiert zu Zitronenzucker, den wir sanft von uns herabrieseln lassen. Ihm nachsehen, wie er verweht, sich auf seine Reise macht.